AKtion März 2021

Arbeit 7

März 2021



Arbeitssuchende beraten, so lange es eben dauert AK bietet im Rahmen eines Pilotprojekts Langzeitarbeitslosen umfassende Beratung an – „Zukunft neu denken“ stärkt ihr erschüttertes Selbstvertrauen ,, Die persönliche Beratung ist einer der wichtigsten Faktoren aktiver Arbeits- marktpolitik. BERATUNG. Das ließ den Bildungs- beraterinnen und -beratern der AK keine Ruhe: Seit die Covid-19-Pande- mie buchstäblich alles auf den Kopf gestellt hat, melden sich bei wiewei- ter.at immer häufiger Menschen, die arbeitslos geworden sind oder Angst um ihre Jobs haben. Allen ist eines gemeinsam: Sie wollen arbeiten und sich, wenn notwendig, auch beruf- lich neu orientieren. Aber wie geht das, wenn das Selbstwertgefühl von Dutzenden einigermaßen über die Runden. Tat- sächlich aber müssen sie 400 oder mehr Frauen und Männer betreuen: Jede und jeder bringt ihre und seine ganz eigenen Geschichten und Er- fahrungen mit, jede und jeder Ein- zelne bräuchte vor allem Zeit. Aber die gibt es nicht. „Dabei ist die Beratung von Arbeitssuchenden eines der wich- tigsten Instrumente aktiver Ar- beitsmarktpolitik.“ Darin sind sich Gerhard Ouschan und der Lan- Gerhard Ouschan AK-Bildungsbereich

BLICK ÜBER DIE GRENZEN VORARLBERGS

Wenn plötzlich alle gute Arbeit haben

In Niederösterreich betreibt das AMS seit Oktober 2020 ein weltweit einzigartiges Projekt zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Alle Langzeitarbeitslosen sollen einen Job erhalten – und zwar garantiert. Gramatneusiedl hat 3600 Einwoh- ner, eine Kirche und eine Arbeiter- siedlung. Die heißt „Marienthal“ und erlangte Anfang der 1930er- Jahre traurige Berühmtheit: 1300 Menschen verloren ihre Arbeit, nachdem die Textilfabrik imOrt geschlossen hatte. Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel un-

chende im Projekt begleitet. Ange- sichts von 15.000 Arbeitssuchenden nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Ja, aber aus demTropfen kann ein Fluss werden, wenn sich das Konzept bewährt. Wichtig ist dabei: Sarah Isele, Reinhard Spiegel und Sarah Bitschnau von wieweiter.at unterliegen keinerlei zeitlichen Vor- gaben hinsichtlich Dauer und Um- fang der Beratung. Was geschieht bei „Zukunft neu denken“? „Im ersten Gespräch schauenwir uns an, wo die Probleme liegen, was das eigentliche Thema ist“, sagt Sarah Isele. „Gemeinsam schauen wir über den Tellerrand.“ Es geht darum, das Selbstvertrauen der Arbeitssuchenden zu stärken, „ihren Selbstwert wieder auszugraben“. So etwas braucht vor allem Zeit. Zeit, in der auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer persönlich gefordert sind, betont Reinhard Spiegel. Be- gleitung und Beratung werden ganz individuell in einem gemeinsamen Prozessplan festgelegt. Da geht es dann natürlich auch um Bewerbun- gen und bestmögliches Eigenmarke- ting. Das Team von wieweiter.at ist gut vernetzt. Die Arbeitssuchenden selber wiederum haben ein persön- liches Umfeld, das gezielt aktiviert wird. Das alles wird helfen. Idealerweise steht am Ende des Beratungs- und Betreuungspro- zesses ein Maßnahmenplan an in- dividuellen Fördermöglichkeiten, der eine Integration in den Arbeits- markt ermöglicht. „Das ganze Pro- jekt ist ein wesentlicher Beitrag für das Recht auf Arbeit“, ist Gerhard Ouschan überzeugt.

Sven Hergovich

tersuchten in einer Langzeitstudie die Folgen der kollektiven Arbeits- losigkeit. „Die Arbeitslosen von Marienthal“ war bahnbrechend für die Zeit und ist bis heute ein soziologisches Standardwerk. Daran knüpft das „Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal“ (MAGMA) an. Hier sollen alle, die bis 2024 langzeitarbeitslos werden, wieder in den Jobmarkt integriert werden. Das AMS rechnet mit maxi- mal 150 Personen. Projekt spart sogar Kosten „Wir wollen Arbeit schaffen statt Langzeitarbeitslosigkeit zu finan- zieren“, bringt es der Geschäftsführer des AMS Niederösterreich auf den Punkt. Sven Hergovich rechnet vor, dass das AMS mit dem Pilotprojekt sogar Kosten spart: Arbeitslosigkeit kostet den Staat pro Betroffenemmit 20.000 Euro AMS-Leistungen und 10.000 Euro an entgangenen Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen 30.000 Euro im Jahr. Die Kosten für einen MAGMA-Teilnehmer belaufen sich auf 29.840 Euro. Das Projekt soll insgesamt 7,4 Millionen Euro kosten. Die MAGMA-Teilnehmer erhalten im Anschluss an eine achtwöchi- ge Einstiegsphase einen Transitarbeitsplatz in der Gemeinde. Hier können sie einer gemeinnützigen Tätigkeit nachgehen, die demOrt hilft. Parallel dazu sucht man für sie eine reguläre Arbeitsstelle. Dort fördert das AMS in den ersten drei Monaten das volle Gehalt und danach bis zu neun Monate zwei Drittel des Lohns. Das AMS hat soziologische und ökonomische Experten eingeladen, um das Projekt zu begleiten. Wirtschaftswissenschaftler Lukas Leh- ner von der Universität Oxford und Jörg Flecker von der Universität Wien werden das Projekt gemeinsam untersuchen. 2024 folgt die Auswertung. Dabei spielen das Wohlbefinden der Teilnehmer und die Kosten eine Rolle. Dann wird sich zeigen, wie nachhaltig Menschen durch gezielte Förderung vor dem Schicksal Langzeitarbeitslosigkeit bewahrt werden können.

Absagen förmlich zerrieben wurde? „Für manche ist es schon ein Erfolg, wenn sie überhaupt wissen, wo sie sich hinwenden können“, gewährt Sarah Isele einen Einblick in den Be- ratungsalltag. Einen solchen Ort hat

desgeschäftsführer des AMS-Vor- arlberg, Bernhard Bereuter, einig. „Zukunft neu denken“ wird deshalb nicht nur für die Arbeitssuchenden selbst ein Gewinn sein. „Wir werden auch für die Beratungsaufgabe des AMS Rückschlüsse aus dem Projekt gewinnen, die aufzeigen werden, wie wichtig zusätzliche Beratungs- Ressourcen im AMS wären“, betont Ouschan. Teilnahme ist freiwillig Das Pilotprojekt startete am 1. März 2021. Vorerst hat das AMS 20 ausge- wählte Arbeitssuchende im Bezirk Feldkirch angeschrieben und ihnen das Projekt „Zukunft neu denken“ vorgeschlagen. Die Teilnahme ist freiwillig. Bei gutem Verlauf werden bis Ende 2021 rund 70 Arbeitssu-

das Teamnun geschaffen. Anlaufstelle ohne Zeitnot

Das Projekt heißt „Zukunft neu den- ken“. Gerhard Ouschan, Leiter der Bildungsabteilung, und sein Team haben diesen neuen Service ge- meinsam mit dem AMS entwickelt. Der Kern: Hier werden Langzeit- arbeitslose individuell beraten und begleitet, so lange es eben dauert. Genau so sieht der Alltag im AMS nämlich nicht aus. Beraterin- nen und Berater kämen mit ma- ximal 150 Klienten pro Kopf noch

▸ AK-Live-Talk am 25. März um 17 Uhr auf unserem Kanal youtube.com/AKVorarlberg. AMS-Geschäfts- führer Sven Hergovich ist zu Gast und erzählt aus dem Modellprojekt Marienthal.

St. Galler Modell für 1500 Betroffene In der schweizerischen Dock-Gruppe finden Langzeitarbeitslose Stellen. Dieses St. Galler Modell einer Sozialfirma ebnet heute 1500 Menschen Wege zu einemNeuanfang. Die Dock-Gruppe AG ist eine hundertprozentige Tochterfirma der Stiftung für Arbeit. Diese Stiftung haben 1997 Vertreter der Stadt St. Gallen, des Gewerbeverbands, der Gewerkschaft und der beiden

Landeskirchen gegründet mit dem Ziel, „Arbeitsplätze für ausgesteuerte Menschen zu schaffen“, wie das in der Schweiz heißt. Das Modell hatte Erfolg. Heute betreibt die Dock-Gruppe Standorte in Amriswil, Arbon, Basel, Biel, Chur, Dietikon, Niederbüren,

Sophie Schimmel

Oftringen, Regensdorf, St. Gallen, Untervaz, Winterthur und Wolhusen. Sie beschäftigt 1500 Personen. Womit? Die Aufträge kommen aus Industrie, Gewerbe und dem Recyclingbereich. Die Langzeitarbeitslosen arbeiten je nach Standort und Tätigkeit unterschiedlich lange, in der Regel aber 20 Stunden pro Woche für 10 bis 14 Franken pro Stunde. Ihr Lohn wird mit der Sozialhilfe verrechnet, was die Sozialhilfeschulden reduziert. 150 Franken dürfen sie behalten. Das Dock-Modell ist ein Plädoyer dafür, mit unternehmerischen Mitteln ein soziales Problem anzugehen.

▸ AK-Live-Talk: Am 18. März war auf unserem Kanal youtube.com/AKVorarlberg Sophie Schimmel zu Gast. Sie ist Mitglied der Geschäftsleitung der Dock Gruppe und diskutierte das beispielhafte Projekt mit Dominic Götz, AK-Grundlagenarbeit.

Das sind die Köpfe hinter demProjekt „Zukunft neu denken“: Sarah Isele, Reinhard Spiegel und Sarah Bitschnau vonwieweiter.at beraten Frauen undMänner, die seit mehr als einem Jahr nachArbeit suchen.

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