AKtion Jänner 2021

Bildung und Arbeit 11

Jänner 2021

Vom Zauber der Normalität Wilhelm Schmid über die Coronakrise: „Im Rück- blick werden wir womöglich dankbar sein!“

BASISWISSEN RASCH ERKLÄRT

von Tamara Thöny-Maier AK-Mitgliederservice Wie kommt eigentlich ein Sozialplan zustande?

Gerade in Zeiten wie diesen mehren sich Berichte über Personalabbau. Dabei kommt einem auch immer wieder der Begriff des Sozialplans unter. Doch was ist so ein Sozialplan überhaupt, wer kann ihn verlangen und wie kommt er zustande? Die Antwort darauf ist imArbeitsverfassungsgesetz zu finden: Wenn im Betrieb mindestens 20 Arbeitnehmer beschäftigt sind und eine Betriebs- änderung stattfindet, die wesentliche Nachteile für einen erheblichen Teil der Belegschaft mit sich bringt, kann der Betriebsrat einen Sozialplan verlangen. So eine Betriebsänderung kann ● die Einschränkung oder Stilllegung des ganzen Betriebes oder von Be- triebsteilen sein, ● die Auflösung von entsprechend vielen Arbeitsverhältnissen, dass eine Meldepflicht nach dem Frühwarnsystem beimAMS ausgelöst wird, ● die Verlegung des ganzen Betriebes oder von Betriebsteilen, ● der Zusammenschluss mit anderen Betrieben, ● die Änderung des Betriebszweckes, der Betriebsanlagen, der Arbeits- oder Betriebsorganisation sowie der Filialorganisation, ● die Einführung neuer Arbeitsmethoden , ● aber auch die Einführung von Rationalisierungs- und Automatisie- rungsmaßnahmen von erheblicher Bedeutung. Der Sozialplan ist eine Betriebsvereinbarung, und weil Betriebsverein- barungen zwischen dem Betriebsinhaber und dem Betriebsrat abge- schlossen werden, setzt er voraus, dass die Belegschaft einen zuständigen Betriebsrat im Betrieb gewählt hat. Der Sozialplan ist erzwingbar, und der Betriebsrat hat die Möglichkeit, das Gericht anzurufen, damit eine Schlichtungsstelle eingerichtet wird, vor der dann unter gerichtlicher Aufsicht über den Sozialplan verhandelt wird, wenn der Arbeitgeber keine Verhandlungen aufnehmen will oder man sich inhaltlich nicht einigen kann. Wenn auch hier Betriebsinhaber und Betriebsrat zu keiner Lösung kom- men, entscheidet die Schlichtungsstelle über den Inhalt des Sozialplans. Vorrangiges Ziel der Sozialplanverhandlungen auf Seiten der Arbeit- nehmer ist es natürlich, möglichst viele Beschäftigte zu halten, daher wird im Rahmen der Verhandlungen vorab geklärt, ob es anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb gibt. Für die Fälle, in denen die Beschäftigung nicht erhalten werden kann, werden Kriterien festgelegt, welche Lebensumstände der Beschäftigten bei der Kündigung besonders zu berücksichtigen sind. Das sind zum Beispiel Lebensalter und Pensi- onsnähe, Sorgepflichten für Kinder oder pflegebedürftige Personen, die Dauer der Betriebszugehörigkeit, Qualifikation und Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt, aber auch besondere Bedürfnisse. Im Sozialplan werden zur sozialen Abfederung des Verlustes ihres Arbeits- platzes den Arbeitnehmern unter Berücksichtigung dieser Kriterien nach verschiedenen Modellen zusätzliche Zahlungen zugeteilt, ein Stiftungs- eintritt ermöglicht oder auch verhindert, dass ein Abfertigungssprung in der Abfertigung alt oder ein Jubiläumsgeld verloren geht etc. Echte Sozialplanzahlungen sind hinsichtlich der Sozialversicherungsabzüge, der Besteuerung und der Lohnnebenkosten begünstigt. Auch für den Arbeitgeber ist der Abschluss eines Sozialplanes von Vor- teil. Abgesehen davon, dass er im Zuge des Abschlusses eines Sozialpla- nes seiner sozialen Verantwortung nachkommen kann, was auch in der Außenwirkung seines Unternehmens vorteilhaft ist, zeigt sich eine deut- liche Reduzierung von sonst oft drohenden Rechtsstreitigkeiten im Zuge der Auflösung von Arbeitsverhältnissen, und mitunter besteht so auch die Möglichkeit, Arbeitnehmern zu einer Qualifizierung zu verhelfen, auf die man vielleicht sogar später wieder einmal zurückgreifen kann, wenn sich die wirtschaftliche Situation wieder gebessert hat.

LEBENSKUNST. In der AK-Reihe „Wissen fürs Leben“ sprach der Phi- losoph Wilhelm Schmid über die Lehren aus der Pandemie. Die AK- tion bat ihn zum Interview. In Ihren Gedanken über die Zeit nach Corona – erschienen imHeft 1/2021 von GEO – sagen Sie: „Im Rückblick werden wir womöglich dankbar sein.“ Dankbar wofür? Wilhelm Schmid: Dafür, dass Co- rona uns dazu gezwungen hat, eine neue Form der Impfung zu erpro- ben. Die mRNA-Impfung, wie sie von verschiedenen Firmen ausgear- beitet worden ist, wird Folgen haben auch für andere Impfungen. Werden Sie sich impfen lassen? Schmid: Selbstverständlich. Viele Menschen begegnen der Coro- na-Impfung mit Skepsis. Nur jeder Zweite in Österreich ist bereit, sich impfen zu lassen. Schmid: Skepsis ist immer gut. Sie bringt uns dazu, genauer hinzu- sehen. Bald schon werden wir also sehen, dass schon Millionen Men- schen geimpft worden sind und kei- ne größeren Probleme aufgetreten sind. Diese Impfung wird im Übri- gen übertragbar sein auf die alljähr- liche Grippeimpfung, die dann sehr viel leichter vonstatten gehen kann. Und sie wird auch die Vorstufe für eine Impfung gegen Krebs sein. Wie soll das jetzt möglich sein? Schmid: Die mRNA-Grundlage der Corona-Impfung kann sehr schnell entwickelt und an neue Be- dingungen angepasst werden. Das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech, das den Impfstoff als Ers- tes entwickelt hat, hat zuvor bereits Jahrelang an einer Impfung gegen Krebs gearbeitet. Aber es fehlte bis- lang die Erfahrung und es fehlte das Geld. Beides bekommt diese Firma jetzt, sodass wir in etwa zehn Jah- ren sagen werden: Die Corona-Pan- demie wog zwar schwer, aber sie hat einen enormen Entwicklungsschub gebracht.

Schon erstaunlich, was die Krise so alles angestoßen hat … Schmid: Krisen sind immer Be- schleuniger von Entwicklungen. Der Widerstand der Gewohnheit wird von der Krise aus dem Weg ge- räumt. Das gilt auch für die Digita- lisierung. Aber wir verdanken der Krise noch etwas ganz anderes: die Erkenntnis nämlich, dass wir außer der Digitalisierung auch die Analo- gisierung brauchen. Die ganz simple Berührung etwa? Schmid: So sieht Analogisierung konkret aus: anfassbare Dinge und Menschen. Reale Berührungen, nicht die von Bildschirmen.Wir wis- sen jetzt, wie wertvoll das alles ist. Das konnten wir zuvor zwar theore- tisch wissen, aber es war uns viel zu selbstverständlich geworden. Zuvor haben auch hierzulande viele wie im Süden zur Begrüßung jeden umarmt, ob bekannt oder unbekannt. Lehrt uns Corona einen bewussteren Umgang? Schmid: Mit großer Sicherheit. Bei- des wird künftig möglich sein, das Zurückkehren zu alten vertrauten Begrüßungsritualen, aber auch die Distanz. Lebenskunst, das bedeutet einen ge- lassenen Umgang mit den jeweiligen Gegebenheiten. Vielen ist das in der Corona-Pandemie unmöglich. Sie sind stattdessen nur genervt. Schmid: Ich gehöre eher zu denen, die entnervt sind, Zeitgenossen zu beobachten, denen es völlig gleich- gültig ist, dass so viele sterben. Einen Mundschutz zu tragen, er- scheint ihnen als viel zu schwer. Die kleinste Einschränkung wird als Katastrophe empfunden. Das ist nicht Lebenskunst! Die kann doch niemals bedeuten, absolut über das eigene Leben bestimmen zu kön- nen. Es ist mitunter einfach sinn- voll, sich zurückzunehmen. Freilich muss der Einzelne die Maßnahmen auch selber einsehen. Gerade in puncto Kommunikation haben die Regierungen viel Un-

sicherheit und wohl auch Chaos verursacht. Schmid: Fast möchte ich sagen: Gnade, Gnade, Gnade! Woher soll- te eine Regierung denn wissen, wie man richtig regiert in so einer Ka- tastrophe? Wenn da Fehler gemacht wurden, sage ich nur: Wer von sich glaubt, es besser zu können, der wer- fe den ersten Stein. Viele Menschen leiden in der Krise unter Ängsten. Angst vor Krank- heit, Arbeitsplatzverlust, Angst um die Lieben, den sozialen Frieden usw. Dabei hat Angst nicht nur üble Seiten. Sie ist ein Lehrmeister, sie macht uns hellhörig … Schmid: Ja, absolut. Wer angstlos über die Straße geht, demkannman nur viel Glück wünschen. Bei der Straße leuchtet das jedemein. Wenn ich niemals Angst habe, dass meine Frau mich verlassen könnte, bin ich auch nicht aufmerksam, wenn sie unzufrieden ist. Es hat sich gerächt, dass der moderne Mensch angstent- wöhnt ist, weil für die grundlegen- den Lebensbedürfnisse ja einiger- maßen gesorgt ist. In den vielen Jahren vor Corona gab es einen Ausdruck, der war sehr un- beliebt: Normalität. Das war ganz schlimm! Es sollte bloß keine Nor- malität geben. Wer auf sich hielt, ist der Normalität durch Reisen entflohen, in der Beziehung durfte es keine Normalität geben, sonst schlief sie ein. Und was ist jetzt das Zauberwort? Normalität! Wir soll- ten das eineWeile bewahren, sollten die Normalität pflegen und dankbar dafür sein. Wilhelm Schmid sprach in der Reihe „Wissen fürs Leben“.

SELBSTBEDIENUNG. Die Steuer- zahler haben die Gastronomie seit Beginn der Pandemie mit Hunder- ten Millionen Euro durch die Krise getragen. Aber irgendwann wird lung ist gerade jetzt, nachdem die Regierung ein weiteres Hilfspaket geschnürt und sogar die Senkung der Mehrwertsteuer für Getränke, Essen und Übernachtung auf nur fünf Prozent bis Ende 2021 verlän- gert habe, aus seiner Sicht „eine un- erträgliche Provokation“. Sprüche wie „Insolvenzen gehören zum Ka- pitalismus wie der Salat zumWiener Schnitzel“ machen den Gastgewer- bebetrieben die Restrukturierung ihrer Unternehmen auf Kosten der Steuerzahler schmackhaft. Gar- niert mit vielen guten Tipps. „Das ist in etwa so, wie wenn die AK einen Leitfaden zum Sozialbetrug heraus- geben würde.“ Angesichts solcher Empfehlungen fordert die AK eine Verschärfung des Insolvenzrechts. „Eine unerträgliche Provokation“ AK-Direktor ,, kein Geld mehr da sein. Deshalb empfiehlt das von der Wirtschafts- kammer gelistete Fachmagazin „Österreichische Gastronomie- und Hotelzeitung“ den Unternehmern rechtzeitig, über eine Insolvenz nachzudenken. „Der Schritt wird als eine Chance auf eine Neuausrich- tung angepriesen“, ärgert sich AK- Direktor Rainer Keckeis. „Im Klar- text: Nach dem Steuerzahler sollen nun auch Zulieferfirmen, Handwer- ker und Arbeitnehmer zusätzlich draufzahlen. Deren Kummer spielt offenbar keine Rolle.“ Diese Empfeh- Das ist in etwa so, wie wenn die AK einen Leitfaden zum Sozialbetrug herausgeben würde. Rainer Keckeis

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