AKtion April 2021

Soziales und Arbeit 7

April 2021



Kloimstein: „Die eigentliche Krise steht uns noch bevor“ Primar von Maria Ebene warnt vor drastischen Folgen, wenn wirt-

schaftliches Comeback nicht gelingt – Schon jetzt kämpfen immer mehr Menschenmit psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie.

ALARMZEICHEN. Knapp nach Ausbruch der Covid- 19-Pandemie hat Philipp Kloimstein im Kranken- haus Maria Ebene das Ruder übernommen. „Die Krise hat uns als Team zusammenge- schweißt“, sagt er. Aber sie fordert in der Bevölkerung immer mehr Opfer, deren Psyche Schäden davonträgt. „Diese Krise ist noch lange nicht vorbei“, betont Kloim- stein. AKtion: ImDezember 2020 haben Sie in einem Interview davor gewarnt, die wahre Kri­ se stünde uns erst bevor. Was kommt da noch auf uns zu? Kloimstein: Ein Blick in die Vergangenheit ist hilfreich, auf die Finanzkrise 2008 oder die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Die erste Frage lautete: Wie können wir das wirtschaftlich stemmen? Da- bei hat sich herausgestellt, dass jene Länder die Finanz- krisen ohne große psychi- sche Belastungen gemeistert haben, die in der Staatsver- schuldung nicht weit über ihre Grenzen gegangen wa- ren. Länder also, die sich ihr Sozial- und Gesundheitssys- tem noch leisten konnten. Wenn es uns also gelingt, die Staatsverschuldung nicht ins Extreme zu steigern, könnten wir mit einem blauen Auge davonkommen. Immerhin haben wir in Vorarlberg be- reits vier Prozent Einsparun- gen im Sozialsystem… Und was droht uns, wenn wir das nicht schaffen? Kloimstein: Dann kann es zu eigentümlichen Phäno- menen kommen wie etwa einer Trendumkehr im Dro- genkonsum. In Griechen- land konnten wir das im Ge- folge der Finanzkrise sehen. Heroin boomt ja seit den 1990er-Jahren international nicht mehr so recht. Es ist eher eine „Loserdroge“. Ko- kain und Amphetamine sind die Drogen der Leistungsge- sellschaft. In Griechenland verursachte die Finanzkrise Massenarbeitslosigkeit.Mehr als 40 Prozent der Jugendli- chen fanden keinen Job. Siehe da: 2009 nahm der Heroin- konsum um 20 Prozent zu. Die Anzahl der Suizide stieg von 2010 bis 2011 um 40 Pro- zent. Die HIV-Infektionen nahmen im selben Zeitraum um 52 Prozent zu. Das sind entsetzliche Zahlen, vor allem, was die Jugendli­ chen anlangt. Kloimstein: Wer sind denn im Moment psychisch die Leidtragenden? Da reden

wir von den Kindern und Ju- gendlichen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie weiß ja schon nicht mehr, woher sie die Plätze nehmen soll. Warum setzt die Pandemie den Jungen so zu? Weil bereits die Eltern überfordert sind? Kloimstein: Das griffe zu kurz. Schauen Sie, Kinder gehen jetzt plötzlich gerne in die Schule. Sie sind halt auch soziale Wesen, die plötzlich entwurzelt wurden. Sie gin- gen früher gerne Oma und Opa besuchen, jetzt hören sie, sie könnten die Großeltern damit umbringen. Kinder können nicht so einfach da- mit umgehen. Selbst die Suizidzahlen unter Kindern sollen gestiegen sein. Kloimstein: Aus Österreich habe ich keine Zahlen, aber in der Schweiz berichten die Kli- niken in Bern etwa über eine deutliche Zunahme an Sui- zidversuchen von Kindern. Was ist den Kindern das Allerwichtigste? Kloimstein: Dass sie sich sozial entwickeln. Die Kinder leiden, weil ihnen die Gleich- altrigen fehlen. Das Sich-sel- ber-Entwickeln und -Spüren ist einfachweggebrochen. Bei uns im Krankenhaus Maria Ebene sind die Jüngsten 15 Jahre alt. Unter den Erwachsenen leiden vor allem jene, die ver­ geblich nach Arbeit suchen. Wir haben mehr als 150.000 Langzeitarbeitslose. Was macht das mit Menschen, wenn ihnen so lange die Per­ spektive abhandenkommt? Kloimstein: Sie verlieren schlichtweg den Sinn im Le- ben. Wir träumen ja immer davon, nicht mehr arbeiten zu müssen. Aber Arbeit gibt uns Struktur, Halt und eine gewis- seWichtigkeit. DenArbeitslo- sen bricht das weg. Und je län- ger die Suche andauert, desto stärker verschwimmt der Ho- rizont der Perspektiven. Die Forschung zeigt, dass al­ lein schon die Sorge, arbeits­ los zu werden, schwerere psychologische Folgen für die Menschen habe als die tat­ sächliche Arbeitslosigkeit … Kloimstein: Da krieg ich im- mer ein bisschen Gänsehaut. Aber tatsächlich wiegt die Sorge um den Job viel schwe- rer als das, was dann eintritt, wenn ich den Job verloren habe. Die Gefahr nimmt man als viel belastender wahr. Die Corona-Pandemie hat Menschen arbeitslos ge­ macht, die im Leben nicht damit gerechnet hätten. Kloimstein: Ja, sie hat uns allen gesagt: Keiner ist wirk-

lich sicher. Und sie hat vie- len Verluste beschert. Selbst Kurzarbeit heißt 20 Prozent weniger Einkommen. Ein Monatsgehalt fehlt also alle fünf Monate. Das ist viel. Viele von den Langzeit­ arbeitslosen werden es nicht mehr in den ersten Arbeits­ markt schaffen. Wie kann deren Perspektive aussehen? Kloimstein: Jedenfalls muss es reelle Arbeit sein. Ich ken- ne aus der Schweiz Übungs- supermärkte, wo sie dann alles simulieren und leere Milchpäckchen spazieren tragen. Das ist entwürdigend. Der Mensch muss sich wert- voll fühlen. Da ist sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt. Was können Betroffene tun, um nicht in die Depression zu schlittern? Kloimstein: Das Wichtigste ist: Kann ich mich selber so weit beobachten, dass ich es mitkriege, wenn es mir nicht gut geht? Ich könnte auch einmal andere beobachten und mir überlegen: Meinem Nachbarn geht es vielleicht nicht gut. Dann spreche ich ihn an. Wir reden heute viel zu wenig über unsere psychi- sche Befindlichkeit. Vielleicht, weil wir’s nie gelernt haben? Kloimstein: Ja, da ist was dran. Jeder in Österreich, der einen Führerschein macht, braucht einen Erstehilfekurs. Aber Leben ohne Erstehilfe- kurs für die Psyche scheint uns ganz normal zu sein. Das erinnert mich an die Medien- welt: Jeder hat ein Smart- phone und kann damit selber Nachrichten machen. Aber wie viele haben das auch ge- lernt? Die Telefonseelsorge bilan­ ziert wachsende Frequenzen. Vereinsamung, Arbeitsplatz­ verlust, Sinnkrise spielen gro­ ße Rollen. Haben bei Ihnen die Zahlen zugenommen? Kloimstein: Die Zahlen ha- ben zugenommen. Im ambu- lanten Bereich verzeichnen wir 50 Prozent Zunahme. Die Covid-19-Krise dauert seit über einem Jahr an. Was war der markanteste Stressfaktor in dieser Zeit? Kloimstein: Diese lang an- dauernde Zermürbungs- phase. Das Nicht-wirklich- wissen-Können, wohin die Entwicklung geht. Das war auch von der Politik mitver- ursacht, die von einer Pres- sekonferenz auf die nächste verwiesen hat. Das erzeugt Stress und Anspannung. Wennmanwie ich imberufli- chen Kontext die ganzen Ver- ordnungen lesen muss, weiß

Für Primar Kloimstein ist „diese lang andauernde Zermürbungsphase“ der markan- teste Stressfaktor der Pandemie.

krise nahe Wien mehr als 3000 Frauen und Männer arbeitslos, weil eine Textil­ fabrik schließen musste. Die Leute fanden keine dauerhaf­ te Beschäftigung mehr. Aber die befürchteten Revolten blieben aus, später liefen die Menschen den Nationalsozia­ listen in die Arme. Kloimstein: Die Leute sind empfänglich für einfache Lösungen. Das haben wir schon bei Trump gesehen. Wenn die Not zunimmt und ich gewisse Sündenböcke ge- nerieren kann, funktioniert das seit jeher verlässlich. Da haben wir einen Nährboden, der uns zur Vorsicht mahnt. Zur Person Mit 1. April 2020 über- nahm der gebürtige Linzer Dr. Philipp Kloimstein als neuer Primar der Stiftung Maria Ebene seinen Dienst. Damit ist er offiziell auch ärztlicher Leiter der Therapiestatio- nen Carina und Lukasfeld, der Beratungsstellen Clean in Bregenz, Bludenz und Feldkirch sowie der Präventionseinrichtung SUPRO – Gesundheit und Prävention. Der 38-jähri- ge Kloimstein studierte Medizin an der Univer- sität Wien, absolvierte ein MBA-Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist ausgebilde- ter Facharzt für Psychia- trie und Psychotherapie. Er hat darüber hinaus ein MBA-Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien absolviert und Vio- line am Konservatorium der Stadt Wien studiert.

man ja nicht mehr, was denn jetzt wirklich gilt. Immerhin hatmich eine Verordnung da- rüber belehrt, dass ich unter Wasser jetzt doch keine Mas- ke tragen und Abstand halten muss. Das steht tatsächlich so drin. Orientierung ist ein zentrales Bedürfnis des Men- schen, und die haben wir seit einem Jahr nicht mehr. Zwischen dem 15. und dem 26. Mai 2020 hat das Gal­ lup-Institut imAuftrag der Sigmund Freud Universität 1000Menschen online inter­ viewt. Jeder Fünfte beklagte psychische Belastungen, jeder Vierte hatte wirtschaftliche Probleme, fast jeden Zweiten (40 Prozent) plagten Zu­ kunftsängste. Studienautor Michael Musalek ging mit der Regierung hart ins Gericht. Ängste schüren verstärke die Krise, sagt er. Kloimstein: Genau so ist es. Ich muss mich schon fragen, ob ich den Menschen meine Ehrlichkeit nicht doch zu- trauen könnte. Und ob ich es selber aushielte, wenn ich mich sagen hörte: Tut mir leid, das weiß ich jetzt nicht. Die Lieblingspolitikerin welt- weit ist ja die neuseeländi- sche Premierministerin. Die hat tatsächlich einen anderen Kommunikationsstil. Inwiefern hat die Isolation durch Corona Menschen mit Sozialphobien eigentlich auch gutgetan? Kloimstein: Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zu Beginn der Pande- mie gesehen: Jetzt geht es al- len so, wie es mir schon seit

Jahren geht, sie haben auch keine sozialen Kontakte. Das konnte durchaus als kurz- fristig entlastend empfunden werden. So wie manche Menschen Homeoffice nicht mehr missen möchten? Kloimstein: Das muss man ganz differenziert anschau- en. Was bedeutet Homeoffice eigentlich? Ich erspare mir als Arbeitgeber Bürokosten und wälz das ab auf meine Angestellten? Oder ich ver- meide Flüge und Dienstreisen und leiste so einen Beitrag für den Klimaschutz? Homeof- fice ist, wenn ich alleine bin, super. Mit zwei Kindern und alleinerziehend ist es ein Alp- traum. Mancher greift in der Pande­ mie vermehrt zu Alkohol oder anderen Drogen. Wann wird es wirklich kritisch? Kloimstein: Kritisch wird es, wenn es nicht zumGenuss passiert, wenn der Alkohol- konsum nicht im Rahmen ei- nes normalen gesellschaftli- chen Austausches geschieht, sondern eine Funktion be- kommt. Weil ich meine Sor- gen loswerden will, wenn ich schlafen möchte, wenn ich runterfahren möchte. Kri- tisch ist es auch, wenn ich je- den Tag die Substanz brauche. Es gibt im Übrigen auch Ver- haltenssüchte: Social Media, Kaufsucht, Pornosucht. Alles, wo ich die Kontrolle verliere. Werfen wir noch einen Blick in die Vergangenheit, auf die Marientalstudie. Damals wurden in den 1930er-Jahren in Folge der Weltwirtschafts­

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