2 Meinung
März 2022
Die arbeitenden Menschen haben sich mehr verdient Sie arbeiten produktiver als in jedem anderen Bundesland, dennoch profi- tieren Vorarlberger Beschäftigte viel zu wenig vomWirtschaftserfolg
LEITARTIKEL Europamuss sich rüsten Angesichts der furchtbaren Ereignisse in der Ukraine einen interes- senspolitischen Kommentar zu schreiben, ist unpassend, unge- achtet vieler Themen, die für die Arbeitnehmerschaft wichtig sind. Derzeit steht aber ein Thema über allem: Friede und Solidarität für alle Menschen in der Welt. , Oligarchen bestrafen ist richtig, aber löst für Europa kein Problem. Rainer Keckeis Direktor der AK Vorarlberg Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist so unglaub- lich, dass sehr viele Menschen, die nach demZusammenbruch der UdSSR an eine neue Friedensordnung und ein nachbarschaftliches Zusammenleben Europas mit Russland geglaubt haben, mit einem riesigen Kater aufgewacht sind. Der angeblich kühle Stratege Putin hat sich als Lügner undMörder entpuppt. An einemKrieg gibt es nie etwas Gutes. Nur setzt er Kräfte frei, die vielleicht für die Zukunft etwas Gutes bewirken können. So etwa das Zusammenwachsen der europäischen Länder unter demDamokles- schwert einer weiteren Aggression Russlands gegen die westlichen Demokratien. Ob es dazu reicht, die schon lange notwendige Schaf- fung einer starken, europäischen Defensivkraft außerhalb der NATO zu verwirklichen, ist unklar. Aber wenn nicht jetzt, wann dann? Sich als Europa nur auf die USA zu verlassen, wenn es um funda- mentale Sicherheitsinteressen geht, ist fahrlässig und seit Donald Trump auch richtig gefährlich. So unpopulär und rückwärtsge- wandt dies auch klingenmag, wenn unsere Kinder in Frieden und in einem demokratischen Rechtsstaat aufwachsen sollen, dann werden wir als Europäer aufrüstenmüssen, um verrückten Diktato- ren wie Putin den Appetit auf weitere Agressionen gegen friedliche Menschen von Anfang an zu verderben.
UNGERECHT. 174.000 unselbst- ständig Beschäftigte gehen in Vorarlberg zur Arbeit. Errichten Bauten und erzeugen Waren, unterrichten und betreuen, ver- walten und gestalten. Dass sich Vorarlberg nach zwei Jahren Pan- demie so schnell gefangen hat, ist wesentlich ihnen zu verdanken. Nur auf den Lohnzetteln sucht man dieAnerkennung vergeblich. Viel zu schwach beteiligt Pro erwirtschaftetem Euro flie- ßen in Vorarlberg nur 46 Cent in die Lohneinkommen. In Wien sind es mehr als 50 Cent, imÖster- reichschnitt 48,5. „Den wirtschaftlichen Zusatz- gewinn der vergangenen 20 Jahre haben großteils Unternehmer:in- nen und Kapitaleigner:innen eingestreift“, stellt AK-Präsident Hubert Hämmerle fest. Dabei ist der Vorarlberger Fleiß alles ande-
re als ein Schwindel. Österreichs zweitkleinstes Bundesland liegt mit einer Stundenproduktivität von knapp 52 Euro (realemBrutto- regionalprodukt pro Stunde) auf dem ersten Platz im Bundeslän- dervergleich! „Die Beschäftigten haben sich einen fairen Anteil am Wachstum redlich verdient!“ Lohnzurückhaltung beenden Lohnzurückhaltung ist die schöne Umschreibung dafür, dass die Löh- ne nicht steigen. Und wenn, dann unter demNiveau der Inflationsra- te. Das hat durchausMethode. Dem Staat Österreich hat die Lohnzurückhaltung zuletzt il- lustre Exporterfolge beschert. Gegenüber anderen Volkswirt- schaften verschaffte sie uns einen preislichen Wettbewerbsvorteil. „Gleichzeitig verringert die nied- rige Bruttolohnquote aber den In- landskonsum, da den Menschen
immer weniger Geld zum Leben bleibt“, gibt der AK-Präsident zu bedenken. Deshalbmuss die Lohn- zurückhaltung ein Ende haben: „Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn in der Höhe von 1700 Euro netto!“ Gemessen an den Le- benshaltungskosten beileibe kei- ne unbescheidene Forderung. Über ein Jahr lang ohne Arbeit Über 9000 Menschen suchen derzeit in Vorarlberg nach Arbeit. 2260 Frauen und Männer tun das bereits seit einem Jahr oder län- ger. Die Corona-Krise hat vor al- lem ihnen übel mitgespielt. Während der Höhepunkt der gesamten Arbeitslosigkeit zu Be- ginn der Corona-Krise erreicht wurde, spitzt sich das strukturel- le Problem der Langzeitarbeitslo- sigkeit weiter zu. „Viele von ihnen leidenunter hohenVermittlungs- hemmnissen“, Hämmerle denkt
Abb. 3.2: Stundenproduktivität als reales BRP pro Stunde, 2019
▸ E-Mail: direktion@ak-vorarlberg.at
Burgenland Kärnten Steiermark Tirol Niederösterreich Österreich Oberösterreich Salzburg Wien Vorarlberg
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GASTKOMMENTAR Gebt der Jugend eine Stimme Das erklärte Haupt-Erziehungsziel für uns Eltern ist es, unseren Nachwuchs in die Mündig- und Selbstständigkeit zu begleiten. Sie sollen allmählich lernen, sich von der elterlichen Umsorgung zu befreien, ihren eigenenWeg zu finden und zu gehen. In dieser Hinsicht ist die Coronapandemie ein Rückschritt, denn den Jugend- lichen wurde dabei diese avisierte Mündigkeit entzogen. , Ja! Wir hätten das Gespräch mit den jungen Menschen suchen sollen – ihre Ängste und Nöte sehen. Veronika Burtscher-Kiene Von außen bekamen sie immer neue Vorgaben aufgedrückt, ihre Leben wurden einer Vollbremsung unterzogen, ohne Mitsprache- recht und Stimme. Ein Dialog fand nicht statt – weder davor noch währenddessen. ImNachhinein heißt es von Erwachsenenseite nun häufig „Wir hätten sollen …“. Ja! Wir hätten das Gespräch mit den jungen Menschen suchen sollen – mit ihnen in Kontakt gehen, ihre Ängste und Nöte sehen. Denn es waren nicht primär die Maßnahmen, die vielen Jugendlichen Schwierigkeiten bereitet haben. Es war die daraus entstehende Sprachlosigkeit, das Nicht-in-Kontakt-Gehen und damit Unsichtbar-Werden, das sie verwirrt und manche auch in eine Krise gestürzt hat. Jetzt – mit Ausblick auf Lockerung, auf ein wieder neues Leben – sollten wir uns damit beschäftigen, welche Lehren wir aus der Vergangenheit ziehen. Nicht zurück zumAlten, sondern Neues daraus entstehen lassen. Möchten wir, dass die heutige Jugend sich zu mündigen Erwachsenen entwickelt, dann müssen wir sie hören und ernst nehmen. Dies wiederum sind in Folge wichtige Faktoren für psychische Gesundheit! ▸ Info: Ihre Erziehungsgedanken teilt Dr. Veronika Burtscher- Kiene online unter https://erziehungsgedanken.com Klinische- und Gesundheitspsycholo- gin am Ehe- und Familienzentrum
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Quelle: Statistik Austria, Eigene Berechnungen
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Löhne der unselbstständig Beschäftigten in Vorarlberg bereits auf einem hohen Niveau befinden, eine Aufschlüs- selung nach Geschlecht jedoch eine hohe Ungleichver- teilung aufzeigt. Im Kontext des vergleichsweise starken Wachstums und der hohen Produktivität ist jedoch auch die Verteilung der unternehmerischen Erträge im Verhält- nis zu den Löhnen (Lohnquote) kritisch zu sehen. Ein Bedeutungsgewinn des Produktionsfaktors Kapital geht einher mit einer Zunahme der Marktmacht großer Unter- nehmen und einer stärkeren Verhandlungsmacht gegen- über dem Faktor Arbeit (Altzinger et al., 2015: 236ff). Eine gewinn- und produktivitätsorientierte Lohnpolitik wird da- durch unrealistischer. Tabelle 3.3 gibt einen Einblick in die doch sehr unter- schiedlichen Dynamiken der Einkommen in den jeweiligen Branchen im Zehn-Jahres-Vergleich (2010 - 2020). Wäh- rend die Brutto Medianeinkommen ohne Sonderzahlun- gen der unselbstständig Beschäftigten im Durchschnitt einen Einkommenszuwachs von 30 Prozent verzeichnen können, sind es im Gesundheits- und Sozialwesen gera- de einmal 21,6 Prozent.
Abbildung 3.5 vergleicht die Einkommensentwicklung mit den Häuser- und Wohnungspreisen (HPI), Mietprei- sen, und der Inflation der letzten 10 Jahre. Der Vorhin erwähnte Einkommen zuwachs des Gesundheits- und Sozialwesens entspricht wie man sehen kann in etwa der Inflation des gleichen Zeitraums. Besonders eklatant die Entwicklung des HPI – welcher im Vergleich zu 2010 im Jahr 2020 bereits um 78 Prozent höher ist. Grund dafür, sind die konstant höheren jährlichen Wachstumsraten des HPI der letzten zehn Jahre, zu sehen in Abbildung 3.4. Genauere Daten zum Thema Wohnen sind im Kapitel Leben, Abschnitt Wohnen zu finden.
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