KW9 Ausgabe 2/2025

RÜCKBLICK

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Die Arbeiterkammer steht dieser Entwicklung zunächst skeptisch gegenüber. Schon in den späten 1950er-Jahren warnt sie – wie viele andere – vor Lohnverfall, Arbeitsplatzverlust und davor, dass Betriebe lieber billige Arbeitskräfte einsetzen statt in moderne Maschinen zu investieren. Doch nach dem ersten Anwerbeabkommen ändert sich ihre Haltung. Drei Jahre später leben bereits mehr als 8.000 Gastarbeiter:innen in Vorarlberg. Die AK erkennt, dass sich daraus neue Herausforderun- gen, aber auch Chancen ergeben. 1967 gründet sie deshalb das erste Gastarbeiterreferat Öster- reichs. Der wachsende Arbeitskräftemangel und die Schwierigkeiten, mit denen die zugereisten Arbeitnehmer:innen konfrontiert sind, veranlas- sen die AK, ihre anfängliche Zurückhaltung zu überwinden. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Zeit Bertram Jäger. Er setzt sich für Solidarität und soziale Ge- rechtigkeit ein – unabhängig von Herkunft oder Nationalität. Jäger ist bekannt dafür, eine Stimme für die »Vielen« zu sein, also auch für jene, die oft am Rand der Gesellschaft stehen. Er erkennt früh, dass aus einem vermeintlich vorübergehenden Phänomen eine dauerhafte Veränderung entstehen wird. Und er versteht: Wenn die Arbeiterkammer die Arbeitsmigrant:innen nicht vertritt, dann könnte sich eine parallele Interessenvertretung bilden. Die AK Vorarlberg entwickelt sich für die Mi­ grant:innen zu einer wichtigen Anlaufstelle. Das Gastarbeiterreferat bietet Rechtsberatung, hilft bei Sprachbarrieren, schützt vor Ausbeutung, orga- nisiert Sprachkurse und unterstützt Vereine und kulturelle Initiativen. Hier beginnt für viele nicht nur ein Arbeits-, sondern auch ein Lebensweg in Vorarlberg. Im November 1969 wird Bertram Jäger zum Präsidenten der AK Vorarlberg gewählt. Bis 1987 prägt er die Institution entscheidend. Sein Engagement wirkt auch institutionell nach: Gast­ arbeiter:innen sind wie alle Arbeitnehmer:innen AK Mitglieder und damit wahlberechtigt bei der AK Wahl. Die Arbeiterkammer wird so einmal mehr zur Stimme der Vielen.

Abschied und Aufbruch: Arbeitsmigranten auf dem Weg in eine neue Zukunft. Am Ende der langen Fahrt wartet Vorarlberg – ein Land im Aufschwung, aber mit akutem Arbeitskräfte- mangel. (Foto: Rudolf Zündel)

60 Jahre Anwerbeabkommen: Wie der Traum vom besseren Leben die Fremde zur zweiten Heimat werden ließ.

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AK Vorarlberg

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