2 Meinung und Pflege
April 2024
LEITARTIKEL Ein Anfang ist gemacht
Julia Bischof muss ihre Toch- ter Angelina rund um die Uhr betreuen. Ihre Liebe zu ihr schmälert das aber natürlich nicht. Foto: privat
GASTKOMMENTAR Zu wenig (überlegt), zu zögerlich, zu spät: Österreichs Ringen mit der Pflegekrise Lange Zeit wurde der Bedarf an Pflegepersonal in Österreich, ins- besondere in Vorarlberg, unterschätzt. Personalmangel, begleitet von Stress und Krankenständen, schreckt Auszubildende, Berufs- einsteiger:innen und -angehörige ab. Bis 2030 benötigen wir in Vorarlberg laut einer Prognose aus dem Jahr 2022 weitere 2300 Pflegekräfte (die Zahl wird weiter nach oben zu korrigieren sein!). Der Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und Personal- stand ist ein Teufelskreis. Dr. Marina Längle Leiterin der Pflegeschule Vorarlberg , Der Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen und Personalstand ist ein Teufelskreis. Tiefgreifende, überzeugende Veränderungen sind notwendig: deutliche Gehaltserhöhungen, Verkürzung der Arbeitszeit um mehr als eine Stunde bei vollem Lohnausgleich, hohe Ausbildungszuschüsse, Steuerfreiheit für Zulagen, Förderung diverser Ausbildungsangebote unterschied- licher Rechtsträger … Als akademisierte Pflegeperson der ersten Stunde vertrete ich aufrichtig die Relevanz der Akademisierung für Entwicklung und Attraktivität des Pflegeberufs. Die gleichzeitige Ab- schaffung der beliebten Diplomausbildung ist jedoch kontra- produktiv. Die Notwendigkeit, attraktive Ausbildungen nicht gegeneinander auszuspielen, ist offensichtlich. Die Schweiz und Deutschland wertschätzen beide Ausbildungswege und weisen ihnen unterschiedliche Ziele und Daseinsberechtigungen zu. Dies könnte auch für Österreich ein gangbarer Weg sein. Es gilt zu handeln, und zwar sofort, ehrlich und tiefgreifend, denn langsam und vorsichtig hat bisher schon nicht zum Ziel geführt. Es ist erfreulich zu sehen, dass Vorarlberg einen bedeutenden Schritt in die richtige Richtung unternimmt, indem es die An- stellung von Familienangehörigen zur Betreuung von Pflege- bedürftigen ermöglicht. Dieser Schritt ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des häuslichen Pflegesystems und zur Förderung der Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen in ihrer vertrauten Umgebung. Die Entscheidung, die persönliche Assistenz im Rahmen eines Pilotprojekts einzuführen, ist lobenswert und verdient Anerkennung. Auch diejenigen, die sich um Angehörige kümmern, die zwar pflegebedürftig sind, aber keine Behinderung haben, brauchen Unterstützung. Eva King Direktorin der AK Vorarlberg , Allerdings ist es damit noch längst nicht getan. Es braucht weitere Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle Angehörigen von Pflegebedürftigen angemessene Unterstützung erhalten. Auch diejenigen, die sich um Angehörige kümmern, die zwar pflegebedürftig sind, aber keine Behinderung haben, stehen vor immensen Herausforderungen. Und auch sie müssen deshalb berücksichtigt werden. So wie wir als AK Vorarlberg es auch in unserem Entlastungsmodell getan haben, das wir 2020 aus- gearbeitet und immer wieder eingefordert haben. Es ist wichtig, dass das Pflegesystem so gestaltet wird, dass es für alle Betroffenen gerecht und zugänglich ist. Denn die Pflege von Angehörigen ist bereits herausfordernd genug. Dann sollen die Rahmenbedingungen nicht noch zusätzlich belasten – sondern bestenfalls unterstützen. ▸ E-Mail: direktion@ak-vorarlberg.at ▸ Dr. Marina Längle leitet die Pflegeschule Vorarlberg, die das Ziel einer qualitätsvollen und praxisorientierten Pflegeausbil - dung verfolgt. Mehr unter: www.pflegeschule-vorarlberg.at
„Entlastungsmodell für pflegende Angehörige würde uns sehr helfen“
Julia Bischofs Tochter Angelina ist schwerbehin- dert und rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Was die Mutter leistet, kommt einer Pflegeanstel- lung gleich. Auf eine solche hofft sie mit dem Modell zur Entlastung pflegender Angehöriger.
Punkte, die auch Julia reizen: „In erster Linie wäre die Anstellung natürlich ein finanzieller Vorteil“, räumt sie ein. „Aber ich denke dabei auch an die Frage: Was kommt da- nach? Was, wenn Angelina einmal nicht mehr ist? Ich würde dann gern in dem Bereich bleiben und anderen Menschen in ähnlichen Situationen helfen. Schließlich habe ich dabei fast zwei Jahrzehnte ‚Berufserfah- rung‘. Nur habe ich eben keine of- fizielle Ausbildung in dem Bereich, könnte ohne das Modell also nicht ohne Weiteres in dem Beruf arbei- ten.“ Mit einer Anstellung bei der PAV hätte sie einen Fuß in der Tür, ein erster Schritt, auf dem sie auf- bauen könnte. Und nicht zuletzt geht es der Meiningerin auch um Anerken- nung: „Die Pflege von Angelina ist harte Arbeit – aber eben keine of- fizielle Arbeit. Deshalb wird sie oft nicht als das angesehen“, beschreibt Julia. „Es ist, als würde ich nicht zur Gesellschaft, zum normalen Leben gehören, da ich keinen geregelten Job habe. Man fühlt sich einfach ausgeschlossen. Das würde sich mit
PFLEGE. Der Tag von Julia Bischof aus Meiningen kennt keine Pausen, das Jahr keinen Urlaub: 24 Stunden am Tag ist sie für ihre Tochter Angeli- na da. Sieben Tage in der Woche. 365 Tage im Jahr. Mindestens alle 60 bis 90 Minuten ist sie im Einsatz. Dann muss Angelina umgelagert werden, damit sie sich nicht wund liegt oder gar offene Wunden bekommt. Denn Angelina ist von Geburt an schwer geistig und körperlich behindert. Die heute 17-Jährige kann keinen Finger bewegen, ist blind, muss über eine Sonde künstlich ernährt wer- den und leidet an Epilepsie. Sie ist vollkommen und jederzeit auf Hilfe angewiesen. Und das bedeutet: auf ihre Mutter Julia. Nicht immer leicht, aber schön Es ist ein Schicksal, das wohl so manche:n verzweifeln lassen würde. Doch nicht die 35-Jährige. Von Tag eins an stemmte sie die Pflege ihrer Tochter. Und daneben auch noch die Erziehung ihrer zwei weiteren Töch- ter, die 13 und 11 Jahre alt sind. „Es ist enorm aufwendig, das schon“, räumt Julia ein. „Angelina wird größer und schwerer, sie zu bewegen geht natür- lich immer mehr auf den Rücken.“ Und dann ist da noch der organisato- rische Aufwand. „Wir können nichts machen ohne Planung. Spontan gibt es nicht. Immer muss weit im Vor- feld abgeklärt werden, wer sich wie um Angelina kümmert.“ Und die ist, wie jeder andere Mensch auch,
natürlich nicht jeden Tag gleich gut drauf: „Angelina hat auch einmal schlechte Tage. Dann hilft auch die beste Planung nichts – dann müssen wir unsere Pläne umwerfen.“ Doch trotz allem würde Julia ihre Familie um nichts in der Welt hergeben. „Meine Arbeit hat kein Ende“ Doch klagen lässt Julia die Behin- derung ihrer ältesten Tochter An- gelina nicht – ganz im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Umständen: „Ich werde oft angesehen, als würde ich ja nur daheim sitzen und nichts leisten. Dabei leiste ich rund um die Uhr etwas – mein Arbeitstagʻ hat kein Ende“, kritisiert sie so manche abschätzige Kommentare. Julias große Hoffnung lautet also: Entlastung für pflegende An- gehörige. Unter diesem Titel hat das Land Vorarlberg vor einigen Mo- naten ein Modell angekündigt, das unter anderem die Anstellung der pflegenden Angehörigen vorsieht. Die AK Vorarlberg hatte bereits im Jahr 2020 ein solches Modell ausge- arbeitet – nun wurden die langjähri- gen Forderungen danach erhört. Finanzen, Zukunft, Anerkennung Das Modell sieht vor, dass pflegen- de Angehörige bei der Servicestelle Persönliche Assistenz Vorarlberg (PAV) angestellt werden. Das hat den Vorteil, dass sie ein Einkommen ha- ben, in die Sozialkassen einzahlen und am Erwerbsleben teilnehmen.
einer Anstellung ändern.“ „Will eine der Ersten sein“
Doch bislang hat sie bis auf die An- kündigung noch nichts gehört. „Ich weiß nicht, wann und wie man für das Modell ausgewählt wird“, sagt Julia. „Ich hoffe, dass es bald mehr Informationen dazu vom Land Vor- arlberg gibt. Und dass ich dann eine der Ersten sein darf, die dabei sind.“
▸ Mehr zur Pflege und Kontakte zu den AK Expert:innen gibt es online.
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