4 Politik und Arbeit
April 2023
BLICK HINTER DIE KULISSEN D Wo Menschen ihren wiederfind Wäre die Integra in Konkurs gegangen, hätten mehr als 550 Menschen – A ihre Arbeit verloren. Dass die AK Vorarlberg gemeinsam mit dem neuen P ist ein Glück. Wer in die Gesichter der Beschäftigten
Silke Fritsch und Yasemin Öztürk führen das „Siebensa- chen“ am Bregenzer Kornmarkt. Verkaufen, was andere entbehren können
WERTSCHÄTZUNG. „Ich glau- be, weil wir sie akzeptieren, wie sie sind.“ Manuela (51), Aysun (42) und Nerman (44) wechseln rasche Blicke, aber der Satz steht: Was die 138 fest Angestellten und rund 420 Transitarbeitskräfte der Integra verbindet, ist ein wertschätzender Umgang. Deshalb kehren so viele er- leichtert zurück, wenn sie am ersten Arbeitsmarkt nicht unterkommen. Deshalb kann man förmlich sehen, wie sie sich in wenigen Wochen ver- ändern: wieder lachen, Struktur zu- rückerlangen, Normalität. Kaum zu glauben, dass die Arbeitsinitiative Integra vor weni- gen Tagen noch am Rand der Pleite stand. Wer sich auf eine Reise durch ihre Werkstätten begibt, lernt viel über das Wesen der Arbeit und übers Leben ganz allgemein. So viele Dienstleistungen Bernhard Heinzle beugt sich über einen Kinderschlafsack, Nursel und Mehibe erklären ihm die Fi- nessen des Produkts. Der Präsident der AK fand in all dem Wirbel der letzten Tage kaum Zeit, sich mit den Arbeitsplätzen der Integra einzeln vertraut zu machen. Jetzt holt er das nach und staunt nicht schlecht. Die AK hat mit dem Arbeitskreis für Vorsorge und Sozialmedizin aks einen neuen Partner an Bord geholt und die Integra retten können. In den weiten Hallen gleich hin- ter dem Dornbirner Rathaus schlägt das Herz der Arbeitsinitiative. Hier legen Langzeitarbeitslose Hand an. In Aysuns Nähwerkstatt wird u. a. Krankenhauswäsche ausgebessert. Die Frauen in Nermans Abteilung prüfen und reparieren Waren vom
SIEBENSACHEN. Irgendwann senkt sie die Stimme, als dürf- te es niemand hören, und sagt dann: „Weißt du, ich hab den geilsten Job der Welt!“ Silke Frick, 47 Jahre alt, einst jahre- lang Bankangestellte, dann in- folge der digitalisierten Prozesse in der Kundenbetreuung nahe- zu vereinsamt und mit einem riesigen Anforderungspaket auf dem Arbeitsmarkt: „Ich woll- te in den Sozialbereich, wollte, dass es wuselt, mit vielen Na- tionalitäten arbeiten, zur Arbeit radeln, möglichst ins Herz von Bregenz …“ Einen Monat später fing sie als Arbeitsanleiterin im „Siebensachen“ an. Dort verkauft Integra, was andere nicht mehr brauchen kön- nen. Zehn Teilnehmerinnen fas- sen – gut begleitet – wieder Fuß. „Kennt ihr deren Vorgeschich- ten?“ Anfangs nicht, sagt Silke, aber nach und nach kommen die Geschichten aufs Tapet. Silke fährt mit den Fingerspitzen über ihren Unterarm. Ihr stellt’s buch- stäblich die Haare auf. Umdenken notwendig Aber ihr gegenüber sitzt Yase- min Öztürk (39). Die zeigt mit ihrer ganzen Existenz, wohin Begleitung führen kann. Yase- min kam im türkischen Kay- seri zur Welt und als Elfjährige nach Vorarlberg. Sie besuchte die Mittelschule und ein Jahr
das Poly. Dann fing sie eine An- lehre als technische Zeichnerin an. Heute ist die dreifache Mut- ter von zwei Buben (21 und 13) und einem Mädchen (17) Silkes Stellvertreterin. Nach der Schei- dung war sie damals ein Jahr lang arbeitslos. „Wegen meinem Kopftuch hat man mir nur Jobs als Reinigungskraft angeboten.“ Dann kam sie zu Integra, an- fangs vier Stunden täglich ins Lager. Sie hat sofort begonnen, sich weiterzubilden. Computer- kurse usw. Heute sagt Silke Fritsch: „Ich könnte morgen aufhören. Yase- min schmeißt den Laden ohne Probleme.“ Die hat inzwischen ihre Lehre als Einzelhandels- kauffrau hinter sich und lässt sich demnächst zur Ausbilderin ausbilden. „Ich sag’s doch“, mur- melt Silke und lacht, „der geilste Job der Welt!“ Frische Ware ist eingetrof- fen. Im „Siebensachen“ fin- det man so ziemlich alles.
Mediashop: „Ausschließlich Retour- ware wird so wieder fit gemacht“, er- läutert Nerman mit hörbarem Stolz. So kamen u. a. auch 14.000 Plüsch- Einhörner wieder in Kinderhände. In acht Regalen lagert die Getz- ner Werkstoffe GmbH all ihre Bro- schüren, die von der Integra auf Wunsch zusammengestellt und ver- schickt werden. Ein paar Tische wei- ter schnürt eine Mitarbeiterin Will- kommenspakete von illwerke vkw. An der Verladerampe am anderen
Ende der Werkhalle herrscht durch- gehend Hochbetrieb. All die Menschen, die hier arbei- ten, suchen seit mehr als einem Jahr vergeblich nach Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt. Sie kommen ein Jahr lang bei der Integra zu kol- lektivvertraglichen Bedingungen unter, dann müssen sie wieder raus in einen Wettbewerb, den viele von ihnen schon verloren haben, noch ehe er begonnen hat. „Bumerang“ heißen sie im internen Sprachge-
„Weil jeder Mensch im Leben eine z ZUKUNFTSSTIFTUNG. „Hier ha- ben wir über 120 Lehrlinge unter Vertrag im ganzen Land“, sagt Bettina Strobl (57) und öffnet prall gefüllte Wandschränke. Sie leitet die Zukunftsstiftung der Integra. „Unsere Zielgruppe sind Arbeits- suchende ab 18 Jahren, nach oben offen.“ Sie werden über das AMS zugewiesen. Der älteste Lehrling ist eine 50-jährige Ukrainerin, die gegenwärtig täglich von Frastanz nach Mellau fährt, um sich zur Kos- metikerin ausbilden zu lassen. „Rundum-sorglos-Paket“ für den Lehrling. Der erhält seinen Lohn vom AMS, gemessen daran, ob er Anspruch auf Arbeitslosen- geld, Notstandshilfe oder Deckung des Lebensunterhaltes hat, und aus dem Stipendium 400 Euro monat- lich. Wenn es nicht klappen sollte, brauchen sich die Firmen nicht um eine Behaltefrist zu kümmern. „Dann suchen wir im Gespräch nach Lösungen“, erzählt Strobl, „ansonsten arbeitet der Lehrling sein Stundensaldo auf Null und steigt aus.“ Wirklich alles vertreten
Gemeinsam die eigenen Stärken herausfinden VOPS. „Vormodul Produktions- schule“ klingt ein wenig sperrig, drum sagen alle nur „Vops“. Hier- her in die Bregenzer Deuring- straße kommen junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, die zumindest die fünfte Schulstufe hinter sich gebracht haben – posi- tiv oder negativ, das ist einerlei. Das Sozialministerium spon-
sert diesen Zweig der Integra, der sich an Jugendliche wendet, die so richtig Mühe haben. „Manche verkriechen sich, die müssen wir in Hausbesuchen regelrecht herauskitzeln“, erzählt Vanes- sa Rusch (46), „andere können nicht einmal selbstständig Bus fahren.“ Im Vops finden sie Ta- gesstruktur. Anfangs kommen sie zweimal pro Woche für ein paar Stunden her. Die gelernte
Markus Reheis, Vanessa Rusch, Sebastian Diethör, Leonie Fröis, Asli Günay-Aydin: Zielvereinbarungen geben Halt.
Freizeitpädagogin fängt die jun- gen Menschen zusammen mit Se- bastian Diethör (30), Leonie Fröis (26), Markus Reheis (58) und Asli Günay-Aydin (46) auf. Mit ihren Klient:innen schließen sie Ziel- vereinbarungen, die als feierliche Urkunden an der Wand prangen.
So will das Team rund um Vanessa Rusch mit den Jugend- lichen deren Stärken herausfin- den, als Basis für den nächsten Schritt: Vielleicht den Abschluss der Pflichtschule oder gar eine Lehre? Das wäre wunderbar …
Haben Firma, AMS und Integra im Rahmen der Implacementstiftung zueinander gefunden, „ergibt das im Idealfall ein Rundum-sorglos- Paket“. Der Betrieb zahlt zwölfmal im Jahr 600 Euro in ein Stipendium
Kommt das oft vor? „Wir haben eine Abbruchquote von 30 Prozent wie in der regulären Lehre auch.“ Ansonsten ist Bettina Strobl stolz auf so manches Schulzeugnis mit gutem oder ausgezeichnetem Er-
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