AKtion Oktober 2021

4 Arbeit 

Oktober 2021

Damit die schöne neue Welt auch schön bleibt

Der Einsatz von Künstlicher Intelli- genz verändert die Arbeitswelt. Über Licht und Schatten und die veränder- te Rolle der Arbeitnehmerschaft dis- kutierten bei der ersten Konferenz im Rahmen der Schaffarei Experten aus Wissenschaft, Interessenvertretung und Management.

Ist das der neue Mensch? Ein bloßes Anhäng- sel der Maschinen, das immer mehr selbst wie ein Roboter funktioniert? Ben Wagner stellt die furchteinflößende Perspektive ganz be- wusst an den Anfang der Konferenz. Gleich wird er einGegenbild zeichnen. Der Assistenz- professor ist aus der TU Delft zugeschaltet. Im Konferenzraum der Schaffarei sitzen Digitali- sierungsexperten aus dem ganzen deutschen Sprachraum. Zwei Tage lang werden sie sich mit den Auswirkungen der Künstlichen Intel- ligenz befassen. KI wirklich intelligent? Ist Künstliche Intelligenz also ein Irrweg? Nein, zunächst ein Widerspruch in sich. Weil KI nicht intelligent ist, ja niemals sein kann. Gut, „Künstliche Intelligenz tut so, als ob sie menschlich wäre“, sagt Wagner. Und wenn sich der Europameister im japanischen Brett- spiel Go vor laufender Kamera einem Compu- ter geschlagen geben muss, erzeugt das schon Gänsehaut. Dabei ist die KI einfach nur rasend schnell. Intelligent ist sie dadurch noch nicht. Die Angst der Menschen, eines Tages er- setzt zu werden, kann Ben Wagner dennoch gut verstehen. „Alles, was automatisiert wer- den kann, wird auch automatisiert.“ Daran herrscht kein Zweifel. Gleichzeitig entwirft der Professor für Technologie, Politik und Management das Bild nachhaltiger Arbeits- welten, in denen der Mensch nach wie vor Würde hat. Denn die Möglichkeiten der Di- gitalisierung können die menschliche Auto- nomie auch stärken helfen. Die Pandemie hat unglaubliche Möglichkeiten aufgezeigt. Alles ist im Fluss. Deshalb ist es Zeit, Arbeit neu zu denken. Und höchste Zeit, dass der arbeitende

der „Höflichkeit“ und „Empathiefähigkeit“ von Beschäftigten genutzt werden. „Einzelne Hersteller versprechen gar die Anregung und

Steuerung von Emotionen.“ Bewegungsmelder im Büro

Die Bewegungsmelder von „OccupEye“, einem Produkt eines Anbieters von Technologie für die Gebäudeverwaltung, können unter Schreibtischen montiert werden. Die Geräte messen Raumtemperatur, Luftqualität, Luft- druck, Geräuschpegel, Lichtintensität und Feuchtigkeit. Die Anwesenheit der Beschäf- tigten an den Schreibtischen kann in Echtzeit dargestellt und rückwirkend ausgewertet wer- den. Der Netzwerk-Gigant Cisco bietet an, die mit den Bewegungsmeldern erfassten Daten mit Informationen über Bewegungsmuster im Büro zu ergänzen – und damit die Ortung von Arbeitnehmer:innen in Innenräumen. Die WLAN-Router, die die Räumlichkeiten mit einem drahtlosen Internetzugang versorgen, dienen dabei als Ortungsgeräte für Laptops, Smartphones und Tablets von Beschäftigten. Einen Schritt weiter geht die US-Firma Humanyze mit ihrem Produkt „People Ana- lytics“ zur Vermessung von Bewegungs- und Kommunikationsmustern im Büro. Dabei tra- gen Beschäftigte über den Arbeitstag hinweg kleine Geräte am Körper, die mit Hilfe eines Mikrofons und anderer Sensoren wie Infrarot und Bluetooth laufend sprachliche Kommu- nikation und Bewegungen auswerten. Das System berechnet daraus Kennzahlen, die die „Effektivität“, Anpassungsfähigkeit und „Pro- duktivität“ der Belegschaft bewerten sollen. Die Liste wäre schier endlos. Und sie er- streckt sich keineswegs nur auf die „bösen“ Märkte in Übersee. Fünf Fallbeispiele aus österreichischen Betrieben belegen das ein- drucksvoll auf Basis von Interviews mit Be- triebsrät:innen. „Von drei österreichischen Organisationen aus dem Sozial- und Gesund- heitsbereich kommt keine ihren Informati- onspflichten nach.“ Die Betriebsrät:innen wer- den übergangen, gar nicht oder erst sehr spät einbezogen, wenn neue Software zum Einsatz kommt. „In zwei Betrieben wurden Beschäf- tigte mit Ranglisten und unzulässigen Aus- wertungen von Krankenständen unter Druck gesetzt.“ Betriebsrät:innen fit machen Deshalb ist es für die AK Vorarlberg so wich- tig, Betriebsrät:innen zu ermächtigen, damit sie in den komplexen Problemlagen nicht der Willkür der Geschäftsleitung ausgesetzt sind. Nikolina Grgic von der Plattform Industrie 4.0 skizziert solcheWege zu einemmenschenzen- trierten Einsatz der KI. Denn der Einsatz von Künstlicher Intelligenz muss nicht grundsätz- lich auf Widerstand stoßen, sofern wichtige

konsequent unterlaufen und Regulierungs- lücken fleißig ausgeschöpft werden.“ Immer wieder ist davon zu lesen: von Versandhan- delsriesen, deren Mitarbeiter aus Zeiterspar- nisgründen aufgefordert werden, in Flaschen zu pinkeln, oder von Essenslieferdiensten, die ihre Fahrer mit Überwachung und Wett- bewerb drangsalieren. Aber wenn einer einen vertieften Blick in diese Büchse der Pandora geworfen hat, dannWolfie Christl. Er lebt in Wien und ist Programmierer, Forscher, Publizist, Erwachsenenbildner, Netzaktivist und Leiter von Cracked Labs. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den ge- sellschaftlichen Auswirkungen neuer Infor- mations- und Kommunikationstechnologien. Seine neueste Studie über „Digitale Überwa- chung und Kontrolle am Arbeitsplatz“ hat’s in sich. Er präsentiert sie im Rahmen der Konfe- renz der Schaffarei zum ersten Mal. Auf demWeg zur permanenten Überwachung „Die umfassende digitale Protokollierung von Arbeitstätigkeiten“ wird Christl zufolge ganz schnell „zur permanenten digitalen Über- wachung und Kontrolle, die tief in die Rechte und Freiheiten der Betroffenen eingreift“. Des einen Freud, des anderen Leid: „Während be- triebliche Abläufe optimiert werden, geraten Arbeitnehmer:innen unter Druck – und unter Pauschalverdacht.“ Wie weit das gehen kann? Aktuell am Markt verfügbare Callcenter- Software etwa erlaubt eine sekundengenaue Totalüberwachung von Arbeitstätigkeiten. „Leistungskennzahlen über die Anzahl und Dauer durchgeführter Gespräche und deren Ergebnisse sind für die Beschäftigten all- gegenwärtig.“ Im Namen von Qualitätssiche- rung, Kundenzufriedenheit und „Compliance“ werden Gespräche aufgezeichnet, automa- tisiert bewertet und können nach Stichwör- tern durchsucht werden. Auch Funktionen zur Analyse der „Stimmung“ in Gesprächen auf Basis von Tonfall, Sprechgeschwindig- keit, Lautstärke und erwähnten Wörtern ste- hen zur Verfügung. Das kann zur Bewertung

Mensch aktiv seine Rolle einfordert. Die uralte Frage nach Anerkennung

Wobei … so neu ist das alles gar nicht. Betti- na-Johanna Krings vom Karlsruher Institut für Technologie erinnert an den britischen Wissenschaftler David Ricardo (1772–1823), an Karl Marx (1818–1883) und die Frühzeit des in- dustriellen Kapitalismus. Bis heute schwingt in den Fragen nach Arbeitsmodellen und der Rolle des Menschen das Bedürfnis nach sozia- ler und ökonomischer Anerkennung von Ar- beit mit. „Gebt den jungen Menschen das Ge- fühl, dass sie unglaublich wichtig sind!“, ruft Krings dem Auditorium zu. Damit angesichts einer ungewissen Zukunft am Arbeitsmarkt nicht Verzweiflung die Oberhand gewinnt. Wohin Entgrenzung führen kann Die wird Jan-Felix Schrape von der Univer- sität Stuttgart zufolge durchaus von der zu- nehmenden Entgrenzung der Erwerbsarbeit fleißig gefüttert. „Gerade auf demFeld der Gig- und Cloudwork erzeugt die plattformzentrier- te Vermittlung von Arbeit vor allen Dingen neuartige flüchtige Arbeitsverhältnisse, in denen unternehmerische Fürsorgepflichten

Die AK bietet Apps und Rechner online an, den Brutto-Netto-Rechner etwa, aber auch Abfertigung und Altersteilzeit, Resturlaub, Stipendien oder die Pension lassen sich mithilfe der AK-Tools berechnen. Hinter der AK-App „Frag uns“ verbergen sich Lexika zu Arbeitsrecht und Konsumentenschutz. ▸ https://vbg.arbeiterkammer.at/services/rechner

Die Konferenz über die Folgen der Digitalisierung für die Arbeits- welt fand im Rahmen der Eröffnung der Schaffarei statt. In Vorarlbergs Haus der Arbeitskultur ist laufend Programm: ▸ https://schaffarei.at/

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